Kapitel 1: Wie alles begann
Es war ein heißer Nachmittag in Nairobi, und die Straßen im Central Business District (CBD) verwandelten sich in ein Schlachtfeld. Junge Demonstranten, Mitglieder der Generation Z, schrien ihre Wut gegen die Regierung von Präsident Ruto heraus. Transparente mit Slogans wie „Ruto lazima aondoke“ (Ruto muss weg) und „Hakuna kodi mpya“ (Keine neuen Steuern) wurden hochgehalten, ihre Fetzen flatterten im Wind, während die Menge vorwärtsdrängte. Die Stimmung war explosiv, aufgeladen wie ein Gewitter, das kurz davor stand, sich zu entladen. Einige Demonstranten hatten ihre Gesichter mit Tüchern verhüllt, als Schutz gegen das vitoa machozi (Tränengas) in der Luft. Andere schrien mit bloßen Gesichtern ihre Verzweiflung und Wut heraus. Die Straßen bebten unter dem stampfenden Rhythmus tausender Füße, entschlossen und wild.
Eines der drängendsten Probleme Kenias war immer ukabila (Tribalismus), der endlose Konflikt der Stämme, der das Land spaltete und Gemeinschaften gegeneinander aufbrachte. Doch an diesem Tag zählten keine Unterschiede. Kikuyu, Luo, Luhya und Kalenjin – sie alle waren vereint in ihrer Ablehnung von Ruto. In ihren Augen war er kein Präsident eines Stammes, sondern ein Verräter an allen. Der Tribalismus, der das Land so lange vergiftet hatte, schien an diesem Tag wie weggeblasen. Der gemeinsame Feind hatte sie zu einer unaufhaltsamen Masse zusammengeschweißt, die nicht bereit war, klein beizugeben.
Mercy, 25, stand mitten im Chaos. Sie blickte in die Gesichter um sich herum. Dies waren ihre Leute, ihre Generation, vereint in ihrer Wut. Und doch nagte die Angst an ihr – was würde ihre Mutter sagen, wenn sie wüsste, dass sie hier ist? Hatte sie ihr nicht immer eingebläut, dass Veränderung einen Preis habe, den normale Menschen oft nicht zahlen konnten? Die schlanke Kenianerin spürte die Wut, die sie und ihre Altersgenossen durchdrang. Ihre Hände zitterten, ihre Augen brannten vom Tränengas, das in dichten Wolken durch die Luft zog und die Sicht verschwimmen ließ. Um sie herum flogen Steine, die auf die Fenster von Geschäften prallten und mit lautem Klirren zerbrachen. Einige der Demonstranten griffen wahllos zu und plünderten die Regale der kleinen Läden am Straßenrand. Die Polizei antwortete mit brutaler Härte: virungu (Schlagstöcke) und Schüsse, die wie Donnerschläge durch die Straßenschluchten hallten. Mercy beobachtete, wie die Polizisten ohne Rücksicht und ohne Gnade auf ihre Altersgenossen einschlugen. Der Anblick der Schlagstöcke ließ Erinnerungen in ihr aufsteigen – das abgenutzte Gesicht ihres Vaters, das Flüstern, wie sehr er in der Vergangenheit gelitten hatte. War das hier anders? Doch während sie hier stand, spürte sie seinen Mut in ihren eigenen Knochen. Ningeweza kuendelea, kama baba yuko karibu na mimi sasa hivi (Könnte ich weitermachen, wenn er jetzt an meiner Seite stünde)? Manche Demonstranten fielen blutend zu Boden, während andere mit allem, was sie hatten, verzweifelt zurückschlugen. Tränengaskartuschen wurden zurückgeworfen, flogen wie brennende Geschosse durch die Luft. Es waren verzweifelte Versuche, sich zu wehren, aber die Polizei drängte weiter vor, mit Schilden und Knüppeln, die Köpfe und Glieder trafen. Blutige Zusammenstöße folgten. Mercy sah, wie einige Demonstranten verhaftet wurden, wie sie sich widersetzten und ihre Arme hochrissen, um die Schläge abzuwehren. Doch die Polizisten kannten keine Gnade – sie schlugen zu, hart und ohne Zögern. Es war ein Bild brutaler Gewalt, das Mercy nicht mehr losließ. Um sie herum kochte die Wut, die Verzweiflung der jungen Menschen, die bereit waren, alles zu riskieren. Sie wussten, dass es gefährlich war, dass sie ihr Leben aufs Spiel setzten. Aber an diesem Tag war es ihnen egal. Sie hatten nichts mehr zu verlieren. Sie schrien, sie kämpften – und einige waren bereit, dafür notfalls zu sterben.
Die Nacht hatte sich längst über Nairobi gelegt, doch der Uhuru-Park lebte noch. Flackernde Lichter von Straßenlaternen und die Autos, die auf der Mombasa Road vorbeirauschten, zeichneten geisterhafte Schweife durch die Dunkelheit. Der Duft von feuchtem Gras und Staub lag in der Luft, vermischt mit dem fernen Hupen und Brummen der Millionenstadt, die nie wirklich schlief. Mercy stand mitten in einer kleinen Gruppe junger Leute, ihre Gesichter halb im Schatten, halb im schwachen Lichtschein der fernen Autoscheinwerfer. Die Anspannung hing wie eine greifbare Wand zwischen ihnen – die Ereignisse des Tages waren noch frisch, die Wunden, die die Konfrontation mit der Polizei hinterlassen hatte, waren noch nicht verheilt. Manche rieben sich unbewusst die blauen Flecken an ihren Armen, andere hielten ihre tränenverschleierten Augen geschlossen, als würden sie versuchen, die Schmerzen auszublenden. Das Nyayo Monument erhob sich hinter ihnen, ein stummer Zeuge ihrer Zusammenkunft, während die Geräusche der Stadt im Hintergrund wie eine unheimliche Melodie widerhallten. George, der in der Mitte des Kreises stand, versuchte, die anderen zu beruhigen. Sein Gesicht war angespannt, doch seine Stimme blieb ruhig. „Hatuwezi endelea hivi“ (Wir können nicht so weitermachen), sagte er. „Ihr habt gesehen, was heute passiert ist. Die Polizei schießt scharf. Jeder von uns hätte tot sein können.“ Mercy konnte die Wut in sich kaum zügeln. Ihre Hände zitterten, und sie ballte die Fäuste, um sich zu beruhigen. „Und was sollen wir tun?“ rief sie mit bebender Stimme, ihre Augen glühten förmlich im schwachen Licht. „Nichts tun und zusehen, wie Ruto uns alles nimmt? Heute haben wir gezeigt, dass wir nicht schweigen. Tumejitetea!“ (Wir haben uns gewehrt!) Die anderen nickten, manche murmelten zustimmend. Die Anspannung in der Gruppe war greifbar, die Erschöpfung lag wie ein schwerer Mantel auf ihren Schultern, doch die Wut, die sie alle verband, loderte noch immer. „Tunacheza na maisha yetu“ (Wir riskieren unser Leben), fuhr George fort, während er einen Blick über die Gruppe warf, die im Schatten der Bäume stand. „Wenn wir weitermachen, kann es schlimmer werden. Die Polizei kennt keine Gnade. Sie könnten uns erschießen, und selbst wenn wir überleben, könnten wir ruiniert sein. Hatuna pesa za hospitali (Wir haben das Geld nicht, uns behandeln zu lassen, wenn wir verwundet werden).“ Die Worte schnitten wie kalte Messer in die Luft, doch Mercy wollte sie nicht hören. „Meine Familie hat eine kleine Farm in Vihiga“, begann sie, ihre Stimme fest. „Wir überleben gerade so von dem, was wir ernten. Und jetzt will Ruto uns auch noch eine Grundsteuer auferlegen, die wir uns nicht leisten können. Hii ni hukumu ya kifo kwetu!“ (Das ist ein Todesurteil für uns!) George warb um Verständnis und hob beschwichtigend die Hände. „Lasst uns diese Steuern zahlen und damit helfen, Kenia aufzubauen!“ Mercy machte es ganz konkret: „Unsere Farm in Vihiga, in Siekuti, ist gerade mal so groß wie ein Fußballfeld. Zwei Mal im Jahr ernten wir Mais. Davon kochen wir unser ugali und sichern das Saatgut für die nächste Saison. Das bisschen Maismehl, das übrig bleibt, verkaufen wir – acht Säcke pro Ernte, 90 Kilogramm pro Sack. Dafür bekommen wir 3.000 Schilling pro Sack, also gerade mal 24.000 KES pro Ernte. Insgesamt haben wir im Jahr 48.000 KES. Das reicht, um nicht zu verhungern, aber für Schulgebühren wird es schon eng, und wenn wir Medizin brauchen, ist es fast unmöglich. Und jetzt will Ruto 50.000 KES Grundsteuer pro Jahr? Wie sollen wir das bezahlen?“ Ein Raunen ging durch die Gruppe, als die anderen sich noch dichter zusammenschoben, um sie besser zu hören. Die Dunkelheit umhüllte ihre Sorgen und Ängste, aber sie waren nicht allein. Die Energie, die sie alle miteinander verband, war wie ein flackerndes Feuer, das im Wind der Nacht tanzte. „Siyo haki!“ (Es ist nicht gerecht!), rief Mercy und spürte, wie sich die Blicke auf sie richteten. „Ruto hat angekündigt, diejenigen zu enteignen, die nicht zahlen. Atachukua kila kitu! (Er wird uns alles nehmen.) Wir haben dann nichts mehr, kein Land, keinen Job, kein Essen – was bleibt uns dann?“ „Ruto lazima aondoke!“ (Ruto muss weg!) rief jemand aus der Gruppe, und die anderen stimmten ein. „Ruto muss weg!“ Die Stimmen wurden lauter, die Wut und Verzweiflung entluden sich in den Rufen, die durch die Nacht hallten. Die Schatten der jungen Menschen wogten im schwachen Licht, und für einen Moment schien es, als könnte ihre Wut die Dunkelheit durchbrechen. George trat einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf. „Das Risiko ist zu groß“, sagte er leise. Doch seine Worte gingen in der aufbrausenden Menge unter. Mercy spürte die Aufregung der anderen und sah, dass sie bereit waren. „Kesho kuna kura katika Bunge“ (Morgen ist die Abstimmung im Parlament), rief sie. „Wir müssen zeigen, dass wir nicht kampflos zusehen. Nani yuko tayari kupigania uhuru wetu?“ (Wer ist dabei? Wer kämpft für seine Freiheit?) Die Hände gingen in die Höhe, und die Rufe wurden lauter. George drehte sich weg, sein Blick verlor sich in der Dunkelheit des Parks. Niemand achtete mehr auf ihn. Die Entscheidung war längst gefallen.
Am nächsten Tag, als die Nachricht vom Beschluss der Steuerreform die Straßen Nairobis erreichte, brodelte es in der Stadt. Die Wut, die sich schon seit Wochen aufgebaut hatte, erreichte ihren Höhepunkt. Vor dem Parlament versammelten sich Tausende, ihre Gesichter verzerrt von Entschlossenheit und Verzweiflung. Sie hatten genug von gebrochenen Versprechen und Reformen, die ihnen das Letzte nahmen, was sie besaßen. Die jungen Demonstranten waren entschlossen, sich nicht länger zurückzuhalten. Mercy war mittendrin, spürte das pulsierende Leben der Menge um sich herum. Rufe hallten durch die Straßenschluchten: „Ruto lazima aondoke!“ (Ruto muss weg!), „Hakuna kodi mpya!“ (Keine neuen Steuern!). Die Demonstranten hielten Transparente hoch, einige umklammerten sie mit blutenden Händen, andere hatten ihre Gesichter verhüllt, um sich vor den Kameras und den wachsamen Augen der Regierung zu schützen. Die Luft war aufgeladen wie vor einem Gewitter, und Mercy spürte, dass die Situation jeden Moment explodieren könnte. Als die ersten Reihen begannen, das schwere Eisentor vor dem Parlament zu stürmen, brach ohrenbetäubendes Chaos aus. Menschen drängten nach vorne, riefen, schrien. Dann fielen die ersten Schüsse. Die Menge erstarrte für einen Sekundenbruchteil, bevor sie weiterdrängte. Der Geruch von machozi (Tränengas) vermischte sich mit dem Rauch der Schüsse, und Schreie durchbrachen die Luft, die so dicht war, dass Mercy das Gefühl hatte, sie würde ersticken. Sie sah, wie Menschen um sie herum fielen, wie die Polizei wahllos Tränengas einsetzte. Mercy duckte sich und rannte zur Seite, während die Polizei weiter vorrückte, ihre Schilde erhoben und die virungu (Schlagstöcke) bereit. Überall um sie herum herrschte Panik. Einige Demonstranten versuchten zu fliehen, andere warfen sich auf die Polizisten, kämpften, um sie niederzuringen. Doch die Gewalt war unaufhaltsam. Mercy sah, wie junge Menschen, die eben noch an ihrer Seite gestanden hatten, zusammenbrachen. Die Schreie der Verletzten und Sterbenden hallten in ihren Ohren wider, während sie über den Platz hetzte. Diejenigen, die es wirklich bis in das Parlament schafften, wurden von der Polizei erschossen. Die Körper dieser jungen Demonstranten schlugen hart auf das Parkett, Blut sickerte über den Boden und färbte die Transparente rot. Mercy schaffte es nicht bis hinein ins Parlament. Plötzlich spürte sie einen scharfen Schmerz am Bein. Sie stolperte, fiel auf die Knie und spürte, wie das Blut langsam ihre Jeans hinunterrann. Ihre Hände zitterten, und sie kämpfte gegen die Panik an, die sie zu überwältigen drohte. In der Nähe sah sie, wie zwei Polizisten einen jungen Mann zu Boden warfen und ihn mit ihren Schlagstöcken traktierten, bis er sich nicht mehr bewegte. Die Verzweiflung und Hilflosigkeit, die Mercy empfand, schnürten ihr die Kehle zu. Dann waren sie bei ihr. Zwei Polizisten packten sie an den Armen, zerrten sie hoch. „Inuka mnyama wewe!“ (Steh auf, du Biest!) schrie einer von ihnen und stieß sie mit dem Schlagstock in den Rücken. Sie konnte sich nicht wehren, war umringt von Uniformierten, die sie ohne Rücksicht und ohne Mitleid durch die Menge schleiften. Ein anderer Polizist riss ihre Tasche von ihrer Schulter, warf sie zu Boden und durchwühlte sie. „Mkenya wa kawaida tu, anayeleta shida“ (Nichts weiter als ein gewöhnlicher Störenfried), murmelte er abfällig, während er ihren Arm noch fester packte. Ihre Haut brannte, wo er sie mit seinem Handschuh drückte. Sie wurde in ein Fahrzeug gestoßen. Ihre Verletzungen pochten, Blut rann von ihrem Finger, aber niemand kümmerte das. Sie spürte die Kälte des Metalls, als die Tür hinter ihr zuknallte, und die Sirenen heulten los. Die Stadt flog an ihr vorbei, und Mercy wusste, dass sich ihr Leben in diesem Moment unwiderruflich verändert hatte.
Die Fahrt zur Polizeiwache schien endlos zu dauern, und jedes Schlagloch verstärkte den Schmerz in Mercys Bein. Als sie schließlich aus dem Polizeiwagen gezerrt wurde, fühlte sie sich wie in einem Albtraum, der kein Ende fand. Nur ein Gedanke hämmerte in ihrem Kopf, als sie eintrat – usikate tamaa, Mercy, usikate tamaa (nicht brechen, Mercy, nicht brechen). Sie war immer stolz auf ihre Stärke gewesen, doch jetzt fühlte sie sich so zerbrechlich wie Glas. Aber das Bild ihrer Mutter, die in ihren Augen stolz aussah, trieb sie an und erinnerte sie daran, warum sie das alles durchstand. Sie musste das überleben, für sich, für ihre Familie. Sie wurde durch enge, schmuddelige Korridore geschleift, die nach Schweiß und Desinfektionsmittel rochen. Schließlich kam sie in einen Raum, der kalt und unpersönlich wirkte, aber von Blicken erfüllt war – allesamt männlich, misstrauisch und abwertend. „Vua nguo“ (Ausziehen), sagte eine Polizistin mit hartem Ton. Mercys Hände zitterten, als sie langsam ihre Kleidung ablegte. Zuerst das TShirt, dann die Hose. Die Blicke der Polizisten brannten sich wie Nadeln in ihre Haut. Sie spürte die Kälte des Bodens unter ihren Füßen und das bedrückende Gefühl, völlig ausgeliefert zu sein. Der Raum war stickig, doch sie fror, als sie nur noch in Slip und BH dastand, umringt von Uniformierten, deren Augen auf ihr lagen wie eine Last, die sie kaum ertragen konnte. Die Polizistin trat vor und begann, Mercys Unterwäsche und Körper abzutasten, ihre Berührungen hart und mechanisch, als wäre sie ein Objekt, kein Mensch. Mercys Wangen glühten vor Scham. Jeder Blick, jedes leise kicheko (Lachen), das sie aus den Augenwinkeln wahrnahm, schnitt tief. Sie versuchte, an etwas anderes zu denken, sich abzulenken, aber die Furcht nagte an ihr. Überall hatte sie Geschichten gehört – Geschichten aus anderen Teilen Kenias, wo junge Frauen in Polizeigewahrsam missbraucht und vergewaltigt wurden. Diese Erinnerungen und Erzählungen jagten ihr mbaridi (Schauer) über den Rücken, während sie reglos dastand, ihre Arme um sich geschlungen, als ob das irgendetwas helfen würde. Niemand sprach, aber das Schweigen im Raum war schwer und bedrohlich. Die Männer sahen sie an, als würden sie sie auseinandernehmen, und in ihren Augen lag etwas, das sie zutiefst beunruhigte. Als die Durchsuchung vorbei war, stieß die Polizistin sie grob zurück und deutete auf ihre Kleidung, die auf dem Boden lag. „Vaa nguo zako“ (Zieh dich an), sagte sie, als ob damit alles erledigt wäre. Mercy sammelte ihre Sachen hastig auf, zog sie mit zitternden Händen an und wünschte sich nichts sehnlicher, als sich unsichtbar zu machen. Danach wurde sie in eine Zelle geführt, deren Wände feucht und schimmlig waren. Der Geruch von mkojo (Urin) lag in der Luft, und sie musste sich zusammenreißen, um nicht zu würgen. Es gab kein Bett, keine Decke – nur einen kalten, schmutzigen Boden. Sie setzte sich in eine Ecke, versuchte, sich klein zu machen und dem Schmutz auszuweichen. Doch das mdudu (Ungeziefer), das die Zelle bevölkerte, ließ sich nicht ignorieren. Zuerst spürte sie nur ein Kribbeln an ihren Beinen, dann die ersten Stiche. Sie wischte die Insekten ab, aber es war zu spät – sie hatten bereits zugeschlagen. Die Haut begann zu jucken und zu brennen, und sie wusste, dass diese Stellen sich noch tagelang entzünden würden. Später holte man sie aus der Zelle, ihre Hände hinter ihrem Rücken gefesselt. Sie wurde in einen anderen Raum geführt, wo sie fotografiert wurde. Das grelle Blitzlicht blendete sie, und in dem kurzen Moment sah sie ihr eigenes, erschrockenes Gesicht im Spiegel der Kameralinse. Dann drückte man ihre Finger mit rauen Bewegungen auf einen Fingerabdruckscanner, nahm ihre Abdrücke und schob sie wieder in die Zelle, ohne ein Wort zu sagen. Niemand kümmerte sich um ihre Wunden, niemand fragte sie, ob sie Schmerzen hatte. Für die Polizisten war sie nichts weiter als eine nambari (Nummer) in einer langen Reihe von Verhaftungen. Zurück in der Zelle zog sie sich wieder in ihre Ecke, schlang ihre Arme um sich und versuchte, die Angst niederzukämpfen, die in ihr hochstieg. In der Dunkelheit lauschte sie den Geräuschen der Station, den Schritten und Stimmen, die sie durch die Wände hörte. Jeder Laut ließ sie zusammenzucken, und jede Sekunde in dieser Zelle fühlte sich wie eine Ewigkeit an. An diesem Tag gab es keine Berichte über Vergewaltigungen durch die Polizei, aber das änderte nichts daran, dass sie Angst hatte – eine Angst, die in ihr wuchs und von dem, was noch kommen könnte, genährt wurde.
Der nächste Morgen begann mit einem kalten Ruck. Die Zellentür öffnete sich knarrend, und zwei Polizisten packten Mercy an den Armen, zerrten sie durch den langen, kahlen Flur, dessen Neonlichter grell über ihr flackerten. Das waren keine gewöhnlichen Streifenpolizisten – das war das DCI (Directorate of Criminal Investigation). Ihre Augen brannten vor Müdigkeit, und die Wunden an ihrem Bein und Finger pochten im Rhythmus ihres Herzschlags. Die Angst lag schwer in ihrem Magen, als sie in einen fensterlosen Raum geführt wurde, der nur von einer kargen Lampe erhellt wurde, die von der Decke hing und kaltes Licht auf die abgenutzten Stühle warf. Sie wurde grob auf einen Stuhl gesetzt, gegenüber von zwei Polizisten, deren Mienen keine Emotionen zeigten. „Also, Mercy...“, begann einer der Männer, seine Stimme war so scharf wie ein Messer, das die Stille durchschnitt. „Wir wissen, dass Sie mehr sind als nur eine einfache Demonstrantin. George, rafiki mwaminifu (George, ein vertrauenswürdiger Informant), hat uns erzählt, dass Sie die Menge im Uhuru-Park aufgewiegelt haben.“ Mercy spürte, wie ihr Herz schneller schlug. George... Sie erinnerte sich an ihn, seine warnenden Worte, die sie am Abend zuvor noch ignoriert hatte. Ein Verräter oder vielleicht sogar ein askari wa siri (verdeckter Ermittler). Sie ballte ihre Hände unter dem Tisch zu Fäusten, zwang sich jedoch, ruhig zu bleiben. „Siyo kweli“ (Das ist nicht wahr), sagte sie, doch ihre Stimme klang hohl, und sie wusste, dass ihre Worte hier bedeutungslos waren. „Ach ja?“ Der andere Polizist lehnte sich vor, seine Augen durchdrangen sie, als wollte er jede ihrer Reaktionen aufsaugen. „Wir haben Ihr Gesicht, Ihre Reden. Sie sind die kiongozi wa ghasia (Rädelsführerin). Wissen Sie, was das bedeutet?“ Er zog langsam ein Blatt Papier aus einer Mappe, legte es vor ihr auf den Tisch und tippte mit dem Finger darauf. „Sie können mit 20 Jahren Gefängnis rechnen, Mercy.“ Ihr Atem stockte, und für einen Moment verschwamm alles um sie herum. Zwanzig Jahre – eine Ewigkeit. Ihr ganzes Leben würde im Gefängnis vergehen. Die Vorstellung, in diesen Zellen, von denen sie schreckliche Geschichten gehört hatte, zu verrotten, ließ einen eisigen mbaridi (Schauer) ihren Rücken hinunterlaufen. „Shirikiana nasi“ (Kooperieren Sie), fuhr der Polizist fort, „verraten Sie uns Ihre Mitstreiter, dann sind es vielleicht nur fünf Jahre.“ Mercy spürte, wie sich ihr Magen verkrampfte. Fünf Jahre – immer noch eine Strafe, die sie kaum ertragen könnte. Aber sie wusste, dass es kein Zurück gab. Sie blickte dem Polizisten direkt in die Augen und sagte fest: „Sitamsaliti mtu“ (Ich werde niemanden verraten). Die Männer sahen sich kurz an, dann zuckte einer die Schultern. „Ihre Entscheidung“, sagte er kühl, bevor er ihr mit einer knappen Geste bedeutete, den Raum zu verlassen. Sie wurde aus dem Verhörraum geführt und auf einer harten Bank im Flur abgesetzt. „Subiri hapa“ (Warten Sie hier), befahl man ihr. „Sie dürfen in der Zwischenzeit Ihr Telefon benutzen.“ Mercy nahm das Handy mit zitternden Fingern entgegen. Die Erlaubnis schien ein seltsames Zugeständnis, fast wie eine mtego (Falle). Doch als sie sich umblickte, bemerkte sie, dass die Polizisten weiter hinten im Flur beschäftigt waren, vertieft in ihre Unterlagen und Verhöre anderer Festgenommener. Keiner achtete auf sie. Langsam hob sie das Handy ans Ohr, tat so, als würde sie eine Nummer wählen. „Hallo...“, flüsterte sie, als ob sie wirklich mit jemandem spräche. Sie stand auf, bewegte sich gemächlich den Flur entlang, als würde sie nach einem besseren Empfang suchen. „Sikukusikia vizuri... Mawimbi ya mtandao ni mabaya“ (Ich höre dich nicht... der Empfang ist schlecht), murmelte sie leise und hielt ihren Blick auf das Handy gerichtet, um den Polizisten den Eindruck zu geben, sie sei abgelenkt. Mit jedem Schritt kam sie der Tür näher. Ihr Herz pochte so laut, dass sie befürchtete, jemand würde es hören. Noch ein paar Schritte. Sie war jetzt fast da, und niemand schien Notiz von ihr zu nehmen. Die Tür stand offen, und die blendende Sonne draußen erhellte die Schwelle. Ein kurzer Blick zurück – die Polizisten waren abgelenkt, ihre Stimmen hallten von den Wänden wider. Mercy atmete tief durch, hielt das Handy noch immer ans Ohr und tat so, als würde sie weiterhin angestrengt zuhören. Sie machte einen letzten, langsamen Schritt und trat über die Schwelle der Tür. Die kühle Luft der Freiheit wehte ihr ins Gesicht. Tuliza roho yako (Beruhige dein Herz), dachte sie. Sie zwang sich, ruhig zu bleiben, und ging einfach weiter, als wäre nichts. Der Moment der Entscheidung war vorbei – sie hatte es geschafft. Draußen, auf der Straße, mischte sie sich unter die Menschen. Autos rauschten vorbei, Verkäufer boten ihre Waren an, und niemand schenkte ihr Beachtung. Noch immer das Handy ans Ohr gepresst, ging sie schnellen Schrittes die Straße hinunter, weg von der Polizeistation, hinein in die schützende Menge der Stadt. Sie wusste, dass sie nicht sicher war – nicht wirklich. Aber für diesen einen Augenblick, während sie sich unter die Menschen mischte, spürte sie die uhuru (Freiheit) wie einen Hauch von Hoffnung auf ihrer Haut.
Draußen drängte sich Mercy durch die Menschenmengen, die Straßen von Nairobi schienen endlos. Ihr Herz raste, während sie ziellos durch die Stadt irrte; der kühle Wind trug Staub und den Lärm der hupenden Autos mit sich. Überall schien Leben zu sein, und doch fühlte sie sich allein, verloren inmitten der Tausenden von Gesichtern, die an ihr vorbeizogen. Schließlich, nach einer endlos scheinenden Stunde des Umherirrens, fand sie sich vor einem schlichten Gebäude wieder, das sie kannte. Es war das Haus, in dem Racheal als Hausmädchen wohnte und arbeitete. Mercy zögerte, bevor sie an die Tür klopfte, warf noch einen schnellen Blick über ihre Schulter, um sicherzugehen, dass ihr niemand gefolgt war. Als die Tür sich öffnete und Racheal sie mit großen Augen ansah, stürzte Mercy sich in ihre Arme. „Tafadhali, Racheal, nahitaji msaada wako“ (Bitte, Racheal, ich brauche deine Hilfe), flüsterte sie, während sie die Schwelle übertrat. Das kleine Zimmer war kaum groß genug für das schmale Bett, das dort stand, aber es bot ihr einen Moment der Sicherheit. Racheal zog sie hinein und schloss die Tür hinter ihnen. „Du weißt, mein Arbeitgeber duldet keine Besucher“, sagte sie leise, die Sorge war deutlich in ihrem Gesicht zu erkennen. „Aber ich kann dich nicht einfach draußen lassen.“ Mercy sank auf das Bett, das kaum Platz für eine Person bot, geschweige denn für zwei. „Nifanye nini sasa?“ (Was kann ich tun?), fragte sie, ihre Stimme brach fast. Die Verzweiflung in ihren Augen war wie ein Abgrund, in den sie zu fallen drohte. „Die Polizei sucht mich, und wenn sie mich finden, bin ich verloren.“ Racheal seufzte, schüttelte den Kopf und setzte sich neben sie. „Gerezani Kenya ni jehanamu“ (Gefängnis in Kenia ist die Hölle), sagte sie mit dunkler Stimme. „Du wirst dort misshandelt und gedemütigt. Viele Frauen werden vergewaltigt. Ich habe Geschichten gehört, Mercy. Ich würde eher sterben, als dorthin zu gehen.“ Mercy schloss für einen Moment die Augen. Die Worte trafen sie tief, die Angst legte sich wie ein kalter Griff um ihr Herz. „Ich bin noch nicht einmal 30“, sagte sie schließlich, ihre Stimme leise, aber entschlossen. „Siwezi kukata tamaa“ (Ich kann nicht aufgeben). „Ich muss einen Weg finden, zu fliehen. Ich muss es versuchen.“ Racheal blickte sie lange an, als wollte sie jede Möglichkeit in Mercys Augen abwägen. „Bila pesa na pasipoti huwezi fika mbali“ (Ohne Geld und ohne Pass kommst du nicht weit), entgegnete sie. „Die Grenzen sind streng bewacht. Es ist ein Risiko, das du dir nicht leisten kannst.“ Doch Mercy ließ sich nicht entmutigen. „Nina mpango“ (Ich habe einen Plan), sagte sie und ihre Augen blitzten auf, während sie näher rückte. „Namanga, die Grenzstadt zu Tansania. Ich war dort schon einmal. Es gibt einen Markt, direkt auf der Grenze, abseits des Kontrollpunkts. Die Leute gehen dort einfach hinüber, ohne kontrolliert zu werden.“ Racheal sah sie skeptisch an. „Na baada ya hapo?“ (Und dann? Was passiert, wenn du drüben bist?) „Du hast kein Geld, kein Netz. Was machst du dann?“ Mercy griff nach Racheals Hand, ihre Finger umklammerten sie fest. „Nakukumbuka, wakati ule nilikusaidia kufika Nairobi“ (Erinnerst du dich, als ich dir damals geholfen habe, nach Nairobi zu kommen), „als du diesen Job gefunden hattest, aber kein Geld für den Easy Coach Bus hierher hattest? Jetzt bist du meine einzige Hoffnung. Komm mit mir nach Namanga. Ich gehe über die Grenze, und du nutzt den offiziellen Kontrollpunkt. Auf der anderen Seite treffen wir uns wieder.“ Racheal seufzte, ihr Blick blieb einen Moment lang auf dem Boden haften, bevor sie aufsah. „Sawa,“ (Okay) sagte sie schließlich, ihre Stimme war leise, aber entschlossen. „Aber das ist gefährlich, Mercy. Hatupaswi kufanya makosa“ (Wir dürfen keine Fehler machen). Am nächsten Morgen machten sie sich auf den Weg. Der Himmel über Nairobi war noch dunkel, als sie durch die Gassen schlichen, und der Mond warf lange Schatten auf die Straße. Das war der Beginn einer gefährlichen Reise, und Mercy wusste, dass es keine zweite Chance geben würde.